Deutschland schafft sich ab

Buchtitel


Deutschland schafft sich ab
Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Deutsche Verlags-Anstalt, München
2010

Autor

Thilo Sarrazin
als Volkswirt von der universität Bonn zum Dr. rer. pol. promoviert;
geb. 12.02.1945; dt. SPD-Politiker;
bekleidete als Finanzwirtschafter im öffentlichen Dienst verschiedene Positionen;
2002 2009 als Finanzsenator im Berliner Senat; anschließend bis Ende September 2010 Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank.

Sarrazin stieß durch provokant formulierte und kontroverse Thesen zur Sozial- und Bevölkerungspolitik verschiedene gesellschaftliche Diskussionen an.

Besprechung

Sarrazin fiel vor allem in seiner Zeit als Berliner Finanzsenator durch messerscharfe Analysen von gesellschaftlichen Zuständen auf und nahm sich auch die Freiheit heraus, diese Feststellungen zu kommentieren. Er lehnte sich dabei nicht in den senatorialen Bürostuhl zurück; er ging hinaus in die Stadtbezirke, schaute sich die Situationen in Schulen und Sozialeinrichtungen an, sprach mit Lehrern, Bezirksbeamten, Menschen auf der Straße, im Café an der Ecke oder mit der Verkäuferin im Ladengeschäft. Was er dabei alles erfuhr und auch erkannte, setzte er in träfe Kommentare und vor allem auch in politische Positionsbezüge um. Dabei kümmerte es ihn wenig, ob das seiner Partei, der SPD, kommod war oder eben nicht. Vieles, was dabei bis in die Öffentlichkeit gelangte, wurde ihm als Sarkasmus oder gar als Zynismus ausgelegt. Die allermeisten hatten dabei übersehen, daß genau betrachtet die Situationen, die er beschrieb, zynisch waren und eigentlich nicht er als Beobachter.

Nun wird es bald ein Jahr werden, als in Deutschland ein Riesengeschrei losging, weil vor der Herausgabe seines Werkes Deutschland schafft sich ab ein paar Kapitel im SPIEGEL als Vorabdruck erschienen sind. Die in Deutschland völlig überzogene Geschichte von political correctness hat sehr vielen politischen und publizistischen Größen der bundesrepublikanischen Szene den gesunden Menschenverstand geraubt. Es wurde auf Sarrazin eingedroschen, noch bevor das Buch überhaupt in den Buchhandlungen verfügbar war. Selbst die Bundeskanzlerin Merkel ließ sich zur Äußerung hinreißen, das Buch sei eine Schande und um das festzustellen, müsse sie es nicht einmal gelesen haben ... Sarrazins Partei, die SPD, die ihm für seine Leistungen als Berliner Finanz-senator einiges zu danken hätte, startete sogar ein Parteiausschlußverfahren, das allerdings vor Ostern 2011 vom Tisch gewischt wurde.

Worum geht es bei diesem Buch?

Sarrazin hat mit dem Röntgenblick und der wissenschaftlichen Methodik des Volkswirtschafters den Verlauf der Immigration nach Deutschland von Menschen aus andern Kulturkreisen analysiert. Er hat dabei auch aufgezeigt, was an gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen alles falsch gelaufen ist. Er kritisiert vor allem auch die falsche oder sogar noch besser die nicht erfolgte Integration dieser Menschen aus vornehmlich islamischen Ländern. Dafür macht er zurecht die Politik verantwortlich und das ohne jede Rücksicht darauf, wer parteipolitisch je am Ruder war.

Sarazzin berührt mit seinem Buch heikle Wunden der europäischen Länder, was natürlich für die Politik sehr unangenehm ist. Doch wenn man sein Buch liest, dann kommt man zum nüchternen Schluß: 85% unbestrittene Faktendarstellung, 10% politische Schlußfolgerung und höchstens 5% persönliche Wertung. Vor dieser nackten Feststellung ist das bundesdeutsche Geschrei schlicht und einfach unverständlich. Eigentlich müßte die deutsche Politik ihrem ehemaligen Finanzbeamten und ihrem ehemaligen Berliner Finanzpolitiker dankbar sein: Endlich hat es einer gewagt, die Problematik anzusprechen!

Und Sarrazins Thema betrifft nicht nur die Bundesrepublik Deutschland. Sie betrifft alle westeuropäischen Länder, die Schweiz eingeschlossen. Und zum grauenhaften, terroristischen Ereignis vom Juli 2011 in Norwegen, darf man einen Bogen schlagen: Hätte die Politik in den verschiedenen europäischen Ländern die Sorgen und Ängste ihrer Mitbürger mit größerem Sensorium registriert, hätte sie diese Themen nicht einfach mit der Haltung, "die kommen ohnehin nicht draus", vom Tisch gewischt, wäre uns möglicherweise dieses Grauen von Oslo erspart geblieben und die Risiken von morgen wären geringer.

Sarrazin wurde bis jetzt in seiner Faktendarstellung von keinem einzigen Ökonomen oder Soziologen widerlegt. Selbst seine politischen Schlußfolgerungen werden nur wenig bestritten. Daß ihm bei seinen persönlichen Wertungen ein paar Feststellungen ins Buch gelangt sind, die nicht allen passen, ist nur normal. Ungeschickt ist sicher die Geschichte mit dem "jüdischen Gen", die natürlich gerade in Deutschland rasch für Reaktionen gesorgt hatte. Allerdings haben die Allermeisten das Buch offensichtlich nicht gelesen, denn es kommt gar nicht direkt im Text vor, sondern nur in einer Fußnote. An sich bleibt aber dabei verwunderlich, wie mit solchen Aussagen umgegangen wird. Schreibt ein Autor wie Sarazzin so etwas in seinem Text, oder führt er es auch nur in einer Fußnote an, so wird sofort "Rassismus" geschrieen. Wenn Vertreter des Judentums davon sprechen, daß die Angehörigen ihrer Gemeinschaft natürlich alle direkt von den alttestamentarischen Stämmen abstammen und somit zum auserwählten Gottesvolk gehören, so ist darin in aller Selbstverständlichkeit nicht die geringste Spur von rassischem Denken enthalten... Es gilt halt auch hier: Es kommt nicht so sehr darauf an, was ist, als vielmehr, was gerade Wirkung macht.

Bref: Wer im Kontext von jüngerer Vergangenheit, aktueller gesellschaftlicher Entwicklung und längerfristigen Perspektiven der europäischen Länder mitdiskutieren will, kommt meines Erachtens um das Studium von Sarrazins Werk nicht herum. Dabei kann es nicht um die Frage gehen, ob man diesen knochentrockenen, intellektuellen, zum Zynismus neigenden Zeitgenossen Sarrazin mag oder nicht. Es geht ausschließlich darum, daß dieser Autor unerfreuliche, aber unbestrittene Fakten darstellt und daß er politische Schlüsse zieht, die auch niemand wirklich widerlegt hat.

Und wenn man beim kleinen Rest von persönlicher Wertung nicht einverstanden ist: jä, he nu so denn!


© Rudolf Mohler3. August 2011